Exzerpt

Auftritt Aican der Zwerg im Roman "Horreum"

Es wäre womöglich angebracht gewesen, laut aufzuschreien. Oder zusammenzuzucken. Oder sofort um Hilfe zu rufen. Aber erstaunlicherweise tat ich nichts davon. Ich zeigte mich nicht einmal überrascht, dass jemand offensichtlich in meine Wohnung eingebrochen war. Ich geriet darüber auch nicht in Panik. Das Einzige, das mir in diesem Augenblick durch den Kopf schoss, war, dass ich diesen kleinen Kerl dort auf meinem Schreibtischstuhl kannte und weil ich ihn aus einem Grund kannte, der seine Existenz in meinem Zimmer unmöglich machte, gab es nur eine einzige Antwort auf meine augenblickliche Situation: Ich hatte den Verstand verloren. Denn - und da gab es keinen Zweifel - dieser Gnom war einer der Protagonisten aus meinem noch nicht veröffentlichten Roman (einem von vielen!) und existierte daher definitiv nur in meinem Kopf… und das bedeutete ja wohl ganz klar, dass ich den Verstand verloren haben musste. Oder?
„Nein, hast du nicht."
Erst jetzt zuckte ich zusammen und zwar so sehr, dass ich mit dem Ellenbogen gegen den Türrahmen stieß, in dem ich immer noch stand. Der Zwerg drehte sich schwungvoll auf meinem Drehstuhl zu mir um, wobei seine beträchtlich mit Schlamm verkrusteten Stiefel eine Handbreit über dem Holzboden schwebten. „Das mag jetzt vielleicht ein wenig überraschend für dich kommen, aber mit deinem Verstand ist soweit alles in Ordnung."
Das beruhigte mich aus dem Mund einer von mir erfundenen Person nicht wirklich. „Und ehe diese Unterhaltung in eine Richtung abdriftet, die nach endlosen Diskussionen doch nur zu der einzig wesentlichen Frage führt, nämlich weshalb ich hier bin, überspringen wir diesen Teil doch einfach und kommen direkt auf den Punkt. Das heißt, erst nachdem ich mich - nur um die Form zu wahren - vorgestellt habe. Ich bin…"
„Aican der Zwerg", beendete ich ungläubig seinen Satz und konnte nicht fassen, dass er sich wirklich genauso ausdrückte, wie ich ihm die Worte in den Mund gelegt hatte. Aican der Zwerg schien einen Augenblick ungehalten darüber, dass ich ihm seine große Show gestohlen hatte. Doch dann breitete sich auf seinem Gesicht ein fächerartiges Grinsen aus, das ihn wie der gerissene kleine Oberflächenzwerg, der zu sein, ich ihm auferlegt hatte, aussehen ließ und mir einen Schauer über den Rücken jagte.
„Na sieh mal an, sie weiß es selbst."
Wie hätte ich es nicht wissen sollen? Er sah genauso aus, wie ich ihn mir ausgedacht hatte…